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Flüchtlingsstatus

von Yossi Klein Halevi
aus dem Amerikanischen von Leo Bauer

The New Republic, 19.08.2002 - East Bay Voice, 19.09.2002

Quelle: Revolutionärer Aufbau Schweiz
Märtyrerpatriarchat Palästina: Militanzfetisch für die vergessenen Opfer?

Tayseer (Name geändert), ein 21jähriger aus Gaza, der versucht, seine Wachsamkeit hinter einem ständigen Lächeln zu verbergen, hat sehr früh die Erfahrung gemacht, daß Schwulsein in Palästina bedeutet kriminell zu sein. Vor drei Jahren ertappte ihn sein älterer Bruder mit seinem Freund im Bett. Er wurde von seiner Familie geschlagen, und sein Vater warnte ihn, daß er Tayseer erwürgen würde, wenn soetwas nocheinmal vorkäme.

Es kam einige Monate später nocheinmal vor. In einem Flüchtlingslager machen Gerüchte die Runde, und ein junger Mann, den er nicht kannte, lud Tayseer in einen Orangenhain ein. Am nächsten Tag erhielt er eine polizeiliche Vorladung. Auf der Wache erfuhr Tayseer, daß sein Sexpartner in Wirklichkeit ein Polizeispitzel war, der die Aufgabe hat, Homosexuelle aufzuspüren. Wenn Tayseer nicht ins Gefängnis gehen wolle, müßte er ebenfalls ein verdeckter Sex-Ermittler werden, und in Gärten und Plantagen auf Schwule lauern und sie der Polizei ausliefern.

Tayseer lehnte es ab, andere hineinzuziehen. Er wurde festgenommen und mit den Armen an der Decke aufgehängt. Ein hochrangiger Polizeioffizier, den er nicht kannte, arrangierte seine Freilassung und forderte Sex als Gegenleistung. Tayseer floh von Gaza nach Tulkarem in der West Bank, wurde aber schließlich auch dort festgenommen. Er wurde gezwungen, bis zum Hals in Abwässern zu stehen, seinen Kopf bedeckt mit einem Sack voll Fäkalien, und dann in eine dunkle Zelle geworfen, die mit Insekten und anderen Lebewesen verseucht war, die er spüren, aber nicht sehen konnte. ("Du klatschst Dir an eine Stelle Deines Körpers, und schon mußt Du woandershin klatschen", erinnert er sich.) Während des Verhörs zogen die Polizisten ihn aus und zwangen ihn, sich auf eine Colaflasche zu setzen. Während all dieser Torturen wurde er von Vernehmungsbeamten, Gefängniswärtern und Mitgefangenen verspottet, weil er ein Homosexueller ist.

Als er einige Monate später freigelassen wurde, ging Tayseer hinüber nach Israel. Er lebt jetzt illegal in einem Dorf von arabischen Israelis und arbeitet in einem Restaurant. Er träumt davon, nach Tel Aviv zu ziehen. "Niemand dort stört sich daran, wenn Du schwul bist", sagt er. Obwohl er weiß, daß heutzutage ein Illegaler aus Gaza in Tel Aviv dem Risiko der Abschiebung ausgesetzt ist, und daß er am sichersten ist, wenn er bleibt, wo er ist.
Und wenn er nach Gaza zurückgeschickt werden würde? "Die Polizei wird mich töten", sagt er. "Außer wenn mein Vater zuerst kommt."

Während wieder überall in Israel Bomben explodieren und die palästinensischen Gebiete unter anscheinend ständiger Ausgangssperre stehen, haben die Leiden palästinensischer Homosexueller nicht wirklich internationale Aufmerksamkeit bekommen. Aber nach zwei Tagen, die ich mit schwulen palästinensischen Flüchtlingen in Israel verbrachte, fing ich an, mich zu wundern, warum die liberale Welt nie Anteil an ihrer Notlage genommen hat.

Vielleicht weil das bedeuten würde, einzugestehen, daß die Pathologie des entstehenden palästinensischen Gemeinwesens weit über Yassir Arafat hinausreicht und nicht durch einmalige freie Wahlen entwurzelt werden kann. In der Tat ist die Schikanierung von Schwulen praktisch offizielle palästinensische Politik. "Die Verfolgung von Schwulen unter der palästinensischen Autonomiebehörde kommt nicht nur von den Familien oder den islamischen Gruppen, sondern von der Autonomiebehörde selbst", sagt Shaul Ganon von der in Tel Aviv ansässigen Agudah, einem Verband von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgenders in Israel. "Der übliche Vorwand ist, sie als Kollaborateure zu bezeichnen - obwohl ich auch von zwei Fällen in den letzten drei Jahren weiß, wo Leute ausdrücklich wegen Homosexualität angeklagt wurden." Seit der Intifada hat die palästinensische Polizei in erhöhtem Ausmaß islamisches Recht durchgesetzt. "Es ist mittlerweile unmöglich, unter der Autonomiebehörde offen schwul zu leben."

Ein Gärtner - nennen wir ihn Samir -, der aus den palästinensischen Gebieten nach Israel geflohen ist, erzählte mir von einem schwulen Freund, der Angehöriger der palästinensischen Polizei war und nach Tel Aviv flüchtete: "Nach einiger Zeit kehrte er nach Nablus zurück, wo er von der palästinensischen Polizei festgenommen und als Kollaborateur angeklagt wurde. Sie steckten ihn in eine Grube. Es war während des Ramadan, und sie entschieden, in den gesamten Monat fasten zu lassen, ohne irgendeine nächtliche Unterbrechung. Sie verweigerten ihm Nahrung und Wasser bis er in diesem Loch starb."

Internationale Menschenrechtsbeobachter haben die Notlage schwuler Palästinenser so gut wie ignoriert. Das U.S. State Department beispielsweise, das kürzlich seinen Menschenrechtsbericht für das Jahr 2001 veröffentlichte, stellt lediglich fest: "In den palästinensischen Gebieten werden Homosexuelle allgemein gesellschaftlich ausgegrenzt und sind gelegentlich physischen Bedrohungen ausgesetzt." Ganon erklärt es so: "Die palästinensischen Menschenrechtsgruppen haben Angst, sich mit dem Problem zu befassen. Ein palästinensischer Aktivist sagte mir, daß Israelis das Thema aufwerfen müssen, da palästinensische Organisationen verboten werden, wenn sie es selbst versuchen. Amnesty Israel sympathisiert mit dem Anliegen, aber sein Mandat ist auf israelische Menschenrechtsverletzungen beschränkt. Und die internationalen Menschenrechtsorganisationen sagen, sie hätten eine lange Liste dringenderer Themen. Wenn hingegen israelische Polizei arabische Israelis wegen Homosexualität schikaniert und ich Berichte veröffentliche - dann können Sie sehen, wie schnell die Menschenrechtsorganisationen Kontakt mit mir aufnehmen, um die Vorfälle zu untersuchen. Die Heuchelei ist unglaublich."

Al Aqsa Martyrs Troops Palestine
Bild:
Al Aqsa Märtyrer-Brigaden

"Zeugen sagen, ein Mann, der einen langen schwarzen Mantel und eine langhaarige Perücke trug, betrat den Raum mit einer Tasche und sah aus, als ob er einen Platz suchte." (27.03.2002)

"Der Terrorist erweckte keinen Verdacht bei der Menge. 'Er hatte sein Haar blondiert um sich zu tarnen.'" (23.05.2002)

"'Er sah nicht verdächtig aus', sagte Yona. 'Er war frisch rasiert. Er hatte sein Haar zurückgegeelt. Er bemerkte uns und betrat dann den Laden.'" (31.07.2002)

"Dieser Vorfall zeigt einige der Techniken, die die Hamas für Terroranschläge benutzt, wie beispielsweise: (...) Das Verwenden einer Frauenverkleidung um Terroristen zu helfen, den Sprengstoff zu verbergen und zu transportieren sowie den Anschlag selbst auszuführen." (Stellungnahme eines israelischen Armeesprechers, 03.07.2002)

Weil die Welt die palästinensische Autonomiebehörde nicht dazu gezwungen hat, Schwule zu akzeptieren, suchen palästinensische Homosexuelle in zunehmendem Maße Zuflucht in dem einzigen Gebiet der Region, das sie bietet: Israel. In den letzten Jahren haben sich hunderte von schwulen Palästinensern, hauptsächlich aus der West Bank, nach Israel eingeschlichen. Die meisten von ihnen leben illegal in Tel Aviv, dem Zentrum von Israels schwuler Community, viele sind zum Verzweifeln arm und arbeiten als Stricher. Doch wenigstens sind sie so außer Reichweite ihrer Familien und der palästinensischen Autonomiebehörde.

Und dennoch bedeutet für diese Flüchtlinge das Leben in Israel eine Randexistenz. Ganon, der mich durch die Community führt, leitet für seinen Verband die Beratungsstelle für schwule Palästinenser. Er ist ein großer Mann mit Goatee, der seine Nächte auf den Straßen von Tel Aviv verbringt, wo sich schwule palästinensische Stricher sammeln. Er bietet ihnen Lebensmittel und Kleidung an, und versucht, sie von Drogen weg und aus dem Gefängnis draußen zu halten. Während der vergangenen vier Jahre hat Ganon tatsächlich soetwas wie eine Ein-Mann-Kampagne unternommen, und versucht, Menschenrechtsgruppen in Israel und anderswo für ihre Notlage zu interessieren. Er hat circa 300 palästinensischen Schwulen in Israel geholfen und schätzt, daß wahrscheinlich doppelt so viele zur Zeit illegal hier leben, ohne Zugang zu legaler Arbeit oder Gesundheitsversorgung und unter ständiger Bedrohung durch Abschiebung. "Niemand hier sorgt sich um uns", sagt Samir, der Gärtner, der mit seinem israelischen Freund lebt. "Ich habe an alle Ministerien der Regierung geschrieben und an alle Zeitungen, mit der Bitte, daß mein Status anerkannt wird. Ich habe von niemandem eine Antwort bekommen."

Nach Ganon ist im letzten Jahr die Polizei aufgrund seiner Bemühungen generell davon abgekommen, palästinensische Schwule festzunehmen und abzuschieben. Er hat sogar ein stilles Übereinkommen mit der Tel Aviver Polizei ausgearbeitet. Er stellt ihnen eine Liste der palästinensischen Schwulen zur Verfügung, die von ihm unterstützt werden, und gibt diesen Schwulen Mitgliedsausweise seines Verbandes, so daß sie ihre Zugehörigkeit nachweisen können. Das Ziel ist, der lokalen Polizei, die hauptsächlich nach palästinensischen Terroristen fahndet, zu versichern, daß diese Palästinenser keine Bedrohung darstellen. (Die Ausnahmen von dieser Regelung sind palästinensische Schwule mit aktenkundigen Vorbelastungen, und solche aus Gaza, denen in den Augen der Israelis wegen der dortigen Popularität der Hamas ein Sicherheitsrisiko anhaftet.) Manche palästinensischen Schwulen sagen jedoch, sie erkennen keine Veränderungen im Vorgehen der Polizei und fühlen sich immer noch gejagt.

Ein Amerikaner, den wir William nennen werden, findet sich im Niemandsland der palästinensischen Schwulen. Im letzten Jahr zog er mit seinem palästinensischen Freund - wir werden ihn Ahmad nennen - in dessen Dorf in der West Bank, eine Entscheidung, die im Rückblick verrückt erscheint. "Wir sagten den Leuten im Dorf, daß wir Freunde sind, und eine Zeitlang funktionierte das", sagt William. "Aber eines Tages fanden wir einen Brief vom islamischen Gericht unter unserer Tür. Das Schreiben führte die fünf Todesarten an, die der Islam für Homosexualität vorsieht, darunter Steinigung und Verbrennung. Wir flohen noch am selben Tag nach Israel."

Jetzt leben sie im verborgenen - hauptsächlich wegen Ahmads Brüdern, die in Tel Aviv nach dem Pärchen gesucht haben und drohten, Ahmad umzubringen. Obwohl William sich an Menschenrechtsgruppen in der ganzen Welt gewendet und bei der amerikanischen Botschaft ein Visum für Ahmad beantragt hat, bekam er kaum eine Antwort. Eine amerikanische Schwulengruppe bot Ahmad Hilfestellung beim Asylantrag an, wenn er in den Vereinigten Staaten ankommt. Doch ihn dorthin zu bekommen ist gerade das Problem - und William weigert sich, ohne Ahmad abzureisen. So sind sie also gestrandet, ein amerikanischer Christ und ein palästinensischer Moslem in einem jüdischen Staat, ohne Geld und ohne Arbeit, angewiesen auf die Unterstützung von Freunden, die Wiederkehr von Ahmads Brüdern fürchtend, und in Erwartung einer Hilfe, von der sie wissen, daß sie so gut wie sicher nicht kommen wird.

Neulich, während einer feuchten Tel Aviver Nacht, in einem Viertel mit heruntergekommenen Cafes für ausländische Arbeiter und neonerleuchten Sex-Shops. Ein halbes Dutzend palästinensischer Teenager mit gegeeltem Haar und ärmellosen T-Shirts sitzen auf einem Geländer und warten auf Freier. Ganon ist hier, wie fast jede Nacht und schaut nach "seinen Kindern". "Braucht jemand Kondome?" fragt er. "Was ist mit Kleidung? Wer von euch hat heute noch nichts gegessen, ihr Süßen?"

Ein Polizeiauto bremst ab, und die Jungen rufen "Die Ausweise bitte!" und lachen. Die Polizei ignoriert sie und fährt weiter.

Die minderjährigen Stricher, Flüchtlinge aus der West Bank, leben in einem leerstehenden Haus. Sie erzählen mir, daß manchmal ein Kunde ein Essen und eine Dusche anbieten wird anstelle der Bezahlung; manchmal wird ein Kunde sich einfach weigern in irgendeiner Form zu bezahlen und höhnisch mit der Polizei drohen. Und manchmal wird die Polizei sie verprügeln, bevor sie sie wieder laufenläßt - zurück auf die Straße.

Ein 17jähriger Flüchtling aus Nablus namens Salah (ein Pseudonym), der Monate in einem Gefängnis der palästinensischen Autonomiebehörde verbrachte, wo Vernehmungsbeamte ihn mit Glasscherben schnitten und Toilettenreiniger in seine Wunden gossen, erzählt Ganon, daß er heute nicht weniger als viermal von der israelischen Polizei angehalten wurde. Er nennt die Namenskürzel der verschiedenen Polizeieinheiten, die ihn aufgehalten haben. "Versuche, keine Dummheiten zu machen," sagt Ganon.

"Ich habe sechsmal versucht mich umzubringen", sagt Salah. "Jedes Mal kam der Notarzt zu schnell. Aber jetzt glaube ich, ich weiß, wie ich es tun werde. Beim nächsten Mal, mit Gottes Hilfe, wird es funktionieren, bevor der Notarzt kommt."

Die Arbeit von Agudah kann finanziell unterstützt werden:
SPPR - Society for the Protection of Personal Rights
First International Bank
Dizengoff Branch 065
account number: 105-251-089

weitere information:



erstveröffentlicht auf etuxx.com 19.12.2002
außerdem:
www.antisemitismusstreit.tk

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